Debatte Stadtflucht von Charlotte Roche: Rehe stinken

Schland: @HamadeHoussam im @tazgezwitscher: Charlotte Roche schwärmt von der #Stadtflucht. Doch Menschen, die was verändern wollen, ziehen in die Stadt, den idealen Ort zum Handeln in der Öffentlichkeit. Das Leben auf dem Land wird romantisiert.

taz: “… Wahrscheinlich versteht Roche nur nicht, wie privilegiert sie ist. Als bekannte Autorin bekommt sie nämlich in Riesenportionen eingeschenkt, was andere nicht haben, wonach sie aber hungern – und was sie in den Städten suchen: Handeln in der Öffentlichkeit. Das sagt Hannah Arendt.

Öffentliches Handeln ist das Gegenmittel zu unserem Leiden. Dieses Leiden besteht nämlich nicht hauptsächlich aus zu wenig Sternenhimmel, sondern entspringt dem Gefühl von „Entweltlichung“. Wir spüren die Welt nicht, wenn wir nur Rädchen im Getriebe sind, uns nur am angeblichen Lauf der Sterne orientieren. Wir spüren sie, indem wir gemeinsam die Dinge in die Hand nehmen. Wir erleben Freiheit, wenn wir zusammen die Getriebe anhalten oder neue in Gang setzen. Das macht glücklich. Nicht der Rückzug ins Private, also das gemütliche Pilzesammeln im Wald, der Blick in den Sternenhimmel von der Terrasse aus, um danach mit der Familie Netflix zu schauen.

Hannah Arendt meint vor allem politisches Handeln und miteinander sprechen. Aber auch, wie wir feiern und uns kleiden und sonst wie leben, kann öffentliches Handeln sein. … Der ideale Ort für öffentliches Handeln ist die Stadt

Wer das Glück nur in der Ruhe sucht, im Privaten, fern von Autolärm und vom „Sternenlicht“ anderer Menschen, tut sich damit nichts Gutes. Das Private allein ist klein und leer. Es stimmt: Wir brauchen den Rückzug als Ausgleich. Abseits dessen ist die Stadt der Ort, in den Leute ziehen, die etwas verändern wollen. …

Wir leben in einer aufregenden, politisierten Zeit. Hier und heute ist Zuschauen die schlechteste Option. In den nächsten Jahrzehnten wird viel machbar sein. Es ist die Zeit der Stadt. Öffentlichkeit ist das Buch, in das wir unsere gemeinsamen Geschichten schreiben. Zwar gibt es auch in der Stadt den Rückzug ins Private, und auch auf dem Land gibt es Öffentlichkeit. Aber der ideale Ort für öffentliches Handeln ist die Stadt.

Die Möglichkeiten dazu werden uns derzeit zunehmend wegverwertet. Markt- und Geldideologen machen die urbane Öffentlichkeit kaputt, indem sie Freiräume zerstören. Orte, die nicht nur an Profit ausgerichtet sind; kleine Ausstellungen, Vereine, Kneipen, Klubs, Nachbarschaftstreffs. Übrig bleibt nur, was sich finanziell lohnt. In den Städten bleiben außerdem nur noch diejenigen, die gut verdienen und dafür so viel von sich investieren müssen, dass ihnen in der Regel keine Kraft mehr bleibt, sich zu engagieren oder neue Tanzstile auszuprobieren.

Aber noch haben wir nicht verloren. Gegen Entweltlichung hilft es, zusammenzuhalten und einzugreifen. Das wäre Hannah Arendts weiser Ratschlag: Zieht euch nicht noch mehr zurück, sondern greift ein. Das hilft. Da kommt Leben in die Bude. Die Stadt ist ein riesiger, von Menschen und Persönlichkeiten wimmelnder Marktplatz. Das ist zwar anstrengend, aber schön. … .”

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