Zuhause bleiben bedeutet ein Zuhause zu haben

März 2020: Woche eins der bundesweiten Kontaktbeschränkungen in der Corona-Krise. Die Frage, die über Allem schwebt ist, wie wir in einem, in 20, in 50 Jahren auf diese Zeit zurückblicken werden. Was wird später in den Geschichtsbüchern stehen? Was macht diese Zeit mit unserer Gesellschaft? Dieser Text ist der erste Versuch ein paar Gedanken zu sortieren – nächste Woche werden wir womöglich schon ganz anders auf die aktuelle Lage blicken. Als Erklärung für die Nachwelt: Um die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus zu verlangsamen, liegt das öffentliche Leben quasi still. Spazierengehen ist noch alleine oder zu zweit mit einer Person aus dem eigenen Haushalt möglich, zur Arbeit gehen müssen fast nur noch die mit “systemrelevanten” Jobs, dafür jonglieren viele in ihren Wohnungen zwischen Haushalt, Homeoffice, Lehrer:in sein für die Kinder und der Sorge um Ältere oder Vorerkrankte. Schulen, Kindergärten, Geschäfte, Bars, Clubs, Kinos etc. sind alle bis auf weiteres geschlossen. Ein Ausnahmezustand, wie ihn die meisten hier noch nicht erlebt haben

Zuhause bleiben

Fast alle sind also angehalten in ihren Wohnungen zu bleiben. Was das heißt könnte aber unterschiedlicher nicht sein. Während die einen sich ein bisschen mehr langweilen als sonst und Playstation spielen oder diese Langeweile in mehr oder weniger lustigen Videos und GIFs ausdrücken, rackern sich andere ganz schön ab. Sie müssen ihre Kinder betreuen oder sogar beschulen, kochen, den Haushalt schmeißen und ihren 40-Stunden-Job parallel mal eben von zu Hause aus machen. Noch viel härter hat es natürlich diejenigen getroffen, die in ihren vier Wänden von häuslicher Gewalt betroffen sind oder nicht mal ein Zuhause haben, wohnungslos oder auf der Flucht sind. Aktuell sitzen 20.000 Menschen in Camp Moria auf Lesvos fest und leben dort unter menschenunwürdigen Bedingungen. Hygiene und medizinische Versorgung sind nicht akzeptabel und Corona stellt für die Geflüchteten dort eine Bedrohung dar, die in Ausmaß und Folgen kaum absehbar, sicher aber eine Katastrophe wäre.

Was das genau die „Corona-Krise“ für die Gesellschaft heißen wird ist noch nicht klar. Klar ist, dass das Bedürfnis nach einem sicheren und guten Zuhause so präsent ist wie schon lange nicht mehr.

Solidarische Nachbarschaften

Was Nachbarschaftsinitiativen seit Jahren in mühseliger Kleinstarbeit versuchen, ploppt in der Corona-Krise vielerorts quasi über Nacht aus dem Boden und flattert in die Briefkästen. Unterstützungsstrukturen in Nachbarschaften bilden sich und bieten an, für Personen aus Risikogruppen Einkäufe zu übernehmen oder andere Besorgungen zu machen, um sie vor möglicher Ansteckung zu schützen. Andere übersetzen Informationen über das Virus und zu Kontaktbeschränkungen in verschiedene Sprachen. Da viele Tafeln keine Lebensmittel mehr ausgeben, werden Privatspenden von Nahrungsmitteln an bestimmten Orten zum Mitnehmen bereitgestellt. Jenseits von Hamsterkäufen und Schlägereien um Klopapier zeigt sich also das gesellschaftliche Miteinander durchaus von seiner positiven Seite. Zu hoffen bleibt, dass das auch in die Post-Corona-Zeit mitgenommen wird.

Das digitale Plemum und Mobilisierung im wahrsten Sinne des Wortes

Das digitale Plenum ermöglicht es uns, dass wieder mehr Menschen am Treffen teilhaben können. Die Kinderbetreuung funktioniert parallel zum Plenum, der Weg durch die Stadt nach einem langen Tag zum Plenum ist nicht mehr weit. Die Videokonferenz erobert unser Plenum und schließt wieder neue Personen ein (und aus). Vielleicht liegt in der Zukunft eines guten Plenums, einen guten Mix zwischen online und offline Treffen.

Polizeikontrollen und die Angst vor dem Autoritären Staat

Bis vor wenigen Tagen gab es noch das Gefühl der Freiwilligkeit und eigenen Vernunft, wenn man seine sozialen Kontakte nur noch online und per Telefon gepflegt hat – auf Anraten eines über Nacht zum Star gewordenen Berliner Virologen. Nun hat sich das geändert. Die bundesweiten Kontaktbeschränkungen sind offiziell und werden je nach Bundesland unterschiedlich ausgelegt und bestraft. Das Gefühl auf der Straße von Polizist:innen nach Ausweis und Gründen für das Draußensein gefragt zu werden, ist kein schönes und lässt einen autoritären Staat durchschimmern, von dem man nur hoffen kann, dass er sich nach Corona wieder etwas mehr in demokratische Schranken verkriecht. Unklar bleibt, was mit Menschen passieren soll, die gar kein Zuhause und/oder keinen Ausweis haben. Das Recht auf Stadt, auf öffentlichen Raum, was unter anderen Vorzeichen eingefordert wird und wurde, scheint fragiler als angenommen.

So viele Fragezeichen

Es bleiben die vielen Fragezeichen, was kommen wird. Wird die Solidaritätswelle anhalten? Werden wir bald so überwacht wie in China – mit Gesundheit als vorgeschobenem Grund? Was passiert mit denen, die gesellschaftlich eh schon so oft auf der Strecke bleiben? Was wird das für wirtschaftliche Folgen haben, nicht zuletzt in unseren Städten und Stadtvierteln? Geht AirBnB endlich pleite? Wir werden es erfahren. Mit Geduld und dem Kampf dafür, dass die Solidarität gewinnt.