Leipziger Internet Zeitung: Steigende Zahl der Asylbewerber zwingt auch Leipzig zum Einstieg in…

Leipzig: Die neue Pestel-Studie zum Wohnungsbedarf, die Reaktionen der Immobilienakteure darauf und ein Blick auf zwei ältere Prognosen des Pestel Instituts zum Leipzig Wohnungsmarkt

Die LVZ-Online greift in ihrer heutigen Ausgabe ebenfalls die Studie des Pestel Instituts auf, nach dem L-iz Leipziger Nachrichten gestern schon einen längeren Artikel dazu gebracht hat: https://www.facebook.com/LeipzigStadtFuerAlle/posts/954501431274595.

„Die Wohnungsmarkt-Prognosen, die das Pestel-Institut aus Hannover jetzt für etliche Städte und Landkreise in Deutschland vorgelegt hat, klingen alarmierend. Auch in Leipzig würden allein für die Flüchtlinge, die in diesem Jahr ankommen, rund 2740 Wohnungen
zusätzlich gebraucht, schrieben die Wissenschaftler in einer aktuellen Pressemitteilung. „Um eine handfeste Wohnungskrise zu vermeiden, muss dringend neuer Wohnraum her. Immerhin braucht Leipzig in diesem Jahr 9,1-mal so viele Wohnungen wie bislang jährlich überhaupt neu gebaut wurden“, so Institutsleiter Matthias Günter. Im Durchschnitt der letzten Jahre seien das nur 1190 Wohnungen gewesen. Stattdessen seien eigentlich 10840 notwendig.“

Da die Zahlen „von Vertretern der hiesigen Immobilienbranche jedoch erneut als wenig fundiert eingeschätzt“ werden, erläutern wir noch einmal die Annahmen, die dieser Studie zugrunde liegen. Dann kann jede_r selbst nachrechnen. Das Pestel-Institut geht von rund 1 Millionen Menschen aus, die in diesem Jahr in Deutschland Zuflucht suchen und nach dem Königsteiner Schlüssel auf Sachsen verteilt werden: 5,1 %, also 51.000 Menschen. Vom Freistaat werden sie nach der Erstaufnahme wiederum den Kommunen zugewiesen, wobei die Stadt Leipzig mit 13,24 % den größten Anteil übernimmt, ca. 6750 Menschen. Die weitere Annahme des Pestel-Instituts erläutert Matthias Günther so „Um die für Asylbewerber zusätzlich benötigten Wohnungen zu ermitteln, gilt die Formel: 100 Flüchtlinge, die nach Leipzig kommen, benötigen im Schnitt 40 Wohnungen.“ So kommt man auf 2.700 benötigte Wohnungen, das Pestel Institut geht von 2.740 aus. Das gilt natürlich nur unter der Annahme, dass alle Menschen zumindest mittelfristig in Wohnungen untergebracht werden und aus den notdürftig eingerichteten Massenunterkünften in Turnhallen, Messehallen, zur Zeit leerstehenden Schulen, Zelten, Containersiedlungen etc. ausziehen können.

Hinzu kommen die Wohnungen für Menschen, die aus Deutschland, Europa und der Welt nach Leipzig ziehen, um hier arbeiten, studieren oder einfach nur leben zu können – ohne dafür Asyl beantragen zu müssen. In diesem Jahr wird der Bevölkerungszuwachs über 14.000 Personen betragen. Die Stadt Leipzig zählte laut Melderegister zum 5. Oktober 2015 insgesamt 560.647 Einwohner_innen. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stieg die Einwohner_innenzahl um 13.708. Es ist davon auszugehen, dass wie bei den vorangehenden drei Quartalen auch im vierten Quartal 2015 der Zuwachs etwas höher ausfallen wird als im Vergleichszeitraum 2014 und damit bis Jahresende die Marke von 14.000 überschritten sein dürfte. Fraglich bleibt, wie viele der oben genannten Asylbewerber_innen in dieser Zählung der Einwohner_innen im Melderegister bereits berücksichtigt sind. Sehr viele leben aber derzeit noch in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes und werden der Stadt erst noch zugewiesen. Die durchschnittliche Haushaltsgröße liegt in Leipzig aktuell bei 1,75 Personen. Unter der Annahme, dass alle Haushalte auch eine Wohnung belegen und nicht in größerer, d.h. statistisch relevanter Zahl mehrere Haushalte z.B. in einer Wohngemeinschaft zusammenleben, werden für 14.000 Menschen 8.000 Wohnungen benötigt. Das Pestel-Institut geht in seiner Rechnung von 8.100 Wohnungen aus.

Addiert man die benötigten Wohnungen für die 14.000 Zuzügler_innen und die 6.750 Asylsuchenden, so kommt man auf 10.700 bzw. die vom Pestel-Institut ermittelten 10.840 Wohnungen. In der Realität dürften es weniger sein, da zum einen wenige Menschen in beiden Gruppen erfasst sind und zum anderen nicht alle Geflüchteten in Leipzig bleiben werden, sei es, weil sie abgeschoben oder sich nach der Anerkennung oder Duldung einen anderen Wohnort suchen werden. Auf der anderen Seite ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass viele Asylsuchenden nach der Anerkennung oder mit einem Status der Duldung aus der ostdeutschen Provinz nach Leipzig ziehen werden, da nur hier und in anderen größeren Städten entsprechende Netzwerke und Infrastrukturen vorhanden sind. Das Sozialamt und das Jobcenter haben bereits im Sommer intern auf diese Entwicklung hingewiesen, weil diese Menschen zumindest in der Anfangszeit sehr häufig Leistungen nach SGB II (ALG II bzw. „Hartz IV“) beziehen, aber nicht mehr unter dem Thema Asylsuchende erfasst werden.

Ob es letztlich 9.000, 10.000 oder 11.000 Wohnungen sind, die allein im Jahr 2015 neu belegt werden, ist schwer zu sagen und auch eher irrelevant, da die Größenordnung wichtig ist. Noch kann der Wohnungsmarkt die Nachfrage „auffangen“. 2015 werden vermutlich 1.500 bis 2.000 Wohnungen durch Neubau oder Umwandlung von Nichtwohngebäuden neu hinzukommen. Damit wird der Gesamtleerstand von rund 22.000 Wohnungen Ende 2014 auf etwa 15.000 Wohnungen oder weniger Ende 2015 abschmelzen. Das klingt immer noch sehr viel. Aber waren es 2014 noch etwa gleich viele marktaktive und nicht marktaktive Wohnungen, so sind werden es 2015 grob überschlagen nur noch 6.000 marktaktive und 9.000 nicht marktaktive Wohnungen sein. Letztere sind für den Wohnungsmarkt eher irrelevant, weil sie erst nach aufwändiger Sanierung wieder vermietet werden können. Dafür werden Zeit, Geld und Baukapazität benötigt. Bis dahin zählen leerstehende ruinöse Wohnungen genauso wenig wie gerade erst geplante Neubauwohnungen ohne Baugenehmigung. Geht man davon aus, dass weiterhin etwa 1.500 leerstehende, nicht marktaktive Wohnungen im Jahr saniert werden, dann wird das noch bis 2020 dauern. Mit Sicherheit sind auch manche Häuser gar nicht mehr sanierungsfähig und durch Wohnungszusammenlegungen im Zuge der Sanierungen schrumpft deren Zahl noch stärker. Selbst bei einer Steigerung auf ca. 2000 Wohneinheiten pro Jahr und der Annahme, fast alle leerstehenden, ruinösen Häuser könnten gerettet und saniert werden, würde dies noch bis 2018/19 dauern.

Es ist aber abzusehen, dass ohne eine deutliche Steigerung der Zahl von Neubauwohnungen der Bedarf ab dem nächsten Jahr nicht mehr zu decken ist. Bei gleichbleibendem Wachstum von ca. 14.000 Menschen in 2016 und den folgenden Jahren werden jährlich wiederum 8.000 Wohnungen benötigt. Der markaktive Leerstand ist mittlerweile auf die Fluktuationsreserve abgeschmolzen, 1.500 bis 2.000 Wohneinheiten kommen jährlich durch Sanierungen bislang nicht marktaktiver Wohnungen hinzu. Es bleibt ein Neubaubedarf von mindestens 6.000 Wohnungen jährlich. Dabei ist der derzeit kaum kalkulierbaren Wohnungsbedarf für anerkannte und geduldete Asylbewerber_innen noch gar nicht berücksichtigt. „Um eine handfeste Wohnungskrise zu vermeiden, muss dringend neuer Wohnraum her. Immerhin braucht Leipzig in diesem Jahr 9,1-mal so viele Wohnungen wie bislang jährlich überhaupt neu gebaut wurden“, so Institutsleiter Matthias Günter. Ohne sich jetzt an dem konkreten Faktor festzubeißen ist Günter recht zu geben.

Die reflexartigen Reaktionen der sogenannten Expert_innen nach dem Motto „Kann gar nicht sein, wir haben ja noch so viel Leerstand!“ erweisen sich schon bei einer sehr groben Überprüfung als viel zu kurz gedacht. Jens Zimmermann, Sprecher beim Immobilienverband IVD Mitte-Ost, sagte auf Nachfrage der LVZ gestern, in Leipzig gäbe es aktuell noch tausende leere Wohnungen, die in kurzer Zeit hergerichtet werden könnten. Auch sei die Zahl der Neubauprojekte sei deutlich gestiegen. „Richtig ist, dass wir zurzeit einen hohen Bedarf bei Single-Wohnungen und großen Quartieren mit vier bis fünf Räumen sehen“, meinte er. Indizien für eine Wohnungskrise seien das aber „noch lange nicht“. Wieviel „tausende“ sind es denn genau und wie kurz ist „eine kurze Zeit“?

Jens Rometsch verweist in seinem Artikel auf ältere Studien des Pestel-Instituts, die angeblich nicht zutreffen würden und schon früher z.B. von der Plattform „Wohnen bei uns“ von vier Leipziger Wohnungsgenossenschaften als „falsch und interessengeleitet“ zurückgewiesen worden waren. Auch da lohnt sich ein Blick zurück.

Das Eduard-Pestel-Institut für Systemforschung e.V. hatte Anfang 1996 eine große Studie unter dem Titel “Zwischen Leerstand und Sanierung” veröffentlicht, in der es in Leipzig bis zum Jahre 2005 einen Wohnungsüberhang von rund 54.000 Einheiten prognostizierte. Der Magistrat der Stadt Leipzig hatte kurz darauf “empört auf das Ergebnis der überarbeiteten Pestel-Studie reagiert” und stattdessen behauptet, der “Wohnungsleerstand wird nicht gravierend sein”. Die “falsche Zahlen” der Pestel-Studie würden stattdessen Investoren für den Leipziger Wohnungsbau vergraulen. Der damalige Beigeordnete für Wohnen, Umwelt und Ordnung der Stadt Leipzig Holger Tschense hielt die Prognose des Angebotes und der Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt für viel zu hoch gegriffen. Das Pestel-Institut “habe nicht tiefgründig recherchiert und damit hohe Wellen geschlagen” (Immobilien Zeitung/ Neue Bundesländer, Ausgabe vom 08.02.1996, S. 18).

Zehn Jahre später hieß es im Monitoringbericht 2006 der Stadt Leipzig dann allererdings: “Mit dem Anstieg des Wohnungsleerstands in Leipzig von 38.500 Wohnungen im September 1995 (Gebäude- und Wohnungszählung) auf etwa 62.500 Wohnungen im März 2000 hatte die Leerstandsentwicklung ihren Zenit erreicht. Bis Ende 2005 ist der Leerstand kontinuierlich auf nunmehr rund 45.000 Wohnungen gesunken.” Damit lagen die tatsächlichen Leerstandszahlen sogar noch deutlich höher als 1996 vom Pestel-Institut prognostiziert und konnten nur den schon länger geforderten, aber erst relativ spät tatsächlich einsetzenden “Rückbau” gesenkt werden. Uns ist nicht bekannt, dass sich der Stadtrat oder der Baubürgermeister beim Pestel-Institut für seinen damaligen Angriff entschuldigt und zugegeben hätte, dass das Institut 1996 durchaus richtig lag mit seiner Einschätzung des Leipziger Wohnungsmarktes.

Insgesamt hatte das Pestel-Institut in seiner Studie 1995/96 zur Entwicklung der Plattenbauwohnungen in den neuen Bundesländern bis zum Jahr 2010 einen rechnerischen Wohnungsüberhang von rd. 950.000 Wohnungen prognostiziert und den politischen Entscheidungsträgern sowie den Wohnungsbauunternehmen empfohlen, sich über langfristige Abrisskonzepte Gedanken zu machen. Dies stieß allerding zu Zeiten großzügiger staatlicher
Wohnungsbauförderung auf sehr heftige Kritik. Später sind nicht nur in Leipzig, sondern allgemein die damaligen Prognosen wie vorhergesagt eingetroffen bzw. wurden noch übertroffen.

Im Frühjahr 2012 kamen zwei vom Pestel-Institut in Hannover und dem Bochumer Wohnungsbau-Experte Volker Eichener im Auftrag der Kampagne „Impulse für den Wohnungsbau“ erarbeitete Studien zu dem Ergebnis, dass es in Deutschland eine neue Wohnungsnot gibt. In den deutschen Großstädten fehlen über 100.000 Mietwohnungen.

Hier die Pestel-Kurzstudie: http://www.impulse-fuer-den-wohnungsbau.de/w/files/studien-etc/pestel-studie-mietwohnungsbau-in-deutschland-kurz-23aae.pdf

Hier die Eichener-Kurzstudie: http://www.impulse-fuer-den-wohnungsbau.de/w/files/studien-etc/eichener-studie-wohnungsbau-zustaendigkeiten-kurzfassung-27aae.pdf

Für Leipzig prognostizierte die Studie, bereits in fünf Jahren, also 2017, werden mehr als 6.000 Wohnungen fehlen. Sofort wurden dem Pestel-Institut wieder Panikmache und die Veröffentlichung falscher Zahlen vorgeworden. Diverse Ratsversammlungen, Kreis- und Landtage sowie Verbände der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft kritisierten die neue Pestel-Studie, sie sei methodisch bedenklich und von den Interessen der Auftraggeber geleitet. Vielleicht hätte man nicht nur in Leipzig aus der Vergangenheit lernen und zumindest etwas vorsichtiger sein sollen bei der ersten Reaktion auf die Ergebnisse neuer Studien (nicht nur) des Pestel-Instituts, auch wenn diese anders ausfallen als es das eigene Bauchgefühl und die eigenen Zahlen sagen.
Derzeit sieht es eher so aus, als würde das Pestel-Institut mit seiner Studie aus 2012 und der prognostizierten Zahl von ca. 6.000 fehlenden Wohnungen in 2017 einmal mehr recht behalten.

#WoPoKo, CDU-Fraktion Leipzig, Fraktion DIE LINKE im Stadtrat zu Leipzig, SPD-Fraktion Leipzig, Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen Leipzig, Stadtrat Rechtsanwalt René Hobusch (FDP)

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